Alles im grünen Bereich?
Zu den kommerziell erfolgreichsten Bands gehört Tokio Hotel - gegründet 2001 von den beiden eineiigen Zwillingen Tom und Bill Kaulitz. Letzterer hat mit gerade dreißig (!) Jahren vor wenigen Monaten ein atemberaubendes Buch über sein Leben veröffentlicht. Bill erzählt, wie er mit seinem Bruder ärmlich gelebt hat, und schreibt von Eskapaden, Einsamkeit und Erfolg.
In dieser spannenden Autobiografie mit dem Titel „Career Suicide“ spricht der Sänger auch die Corona-Krise an – wie sie die lang geplante Lateinamerika-Tour verhindert (Bill verwendet dafür einen sprachlich drastischeren Ausdruck). Und dem Künstler gefällt nicht, dass gewisse Optimisten oder spirituelle Leute der Krise unbedingt einen tieferen Sinn oder etwas Gutes abgewinnen wollen.
Wie ist unsere Einstellung zu dieser durch die Pandemie erzwungenen Entschleunigung? Empfinden wir die Zeit seit Ausbruch des Virus als verloren – jemand hat sogar das vergangene Jahr als eklig bezeichnet? Können wir aus dieser Krise etwas Positives mitnehmen – persönlich oder gesellschaftlich? Jeder Mensch auf unserem Erdball wird da seinen inneren Kampf ausgetragen haben. Gut ist es in jedem Fall, wenn wir lernen, mehr aufeinander zu achten und die Mitmenschen bewusster in unseren Fokus zu setzen. Und nicht so, wie es der amerikanische ehemalige Basketballspieler, Charles Wade Barkley, der kein Blatt vor den Mund nimmt, getan hat (inzwischen hat er sich davon distanziert): die Basketballer der Profiliga in Nordamerika sollen den Covid-Impfstoff als erstes bekommen, da sie ja mehr Steuern als der Rest der Bevölkerung zahlen würden. Das kommentiert zu Recht der Chef von Kickz (Sportshop), dies sei hirnrissig und offenbare ein tragisches Defizit an Mitgefühl gegenüber armen und kranken Menschen (veröffentlicht in der Basketball-Zeitschrift „Five“, Ausgabe 176).
Momentan wird im Umgang mit der Pandemie die Idee angesprochen, unser Land – vereinfacht gesagt - in rote Zonen mit hoher Inzidenz oder in grüne Zonen, in denen das Virus weitgehend verschwunden ist, einzuteilen. Wie wäre es, uns im übertragen Sinn in den grünen Bereichen aufzuhalten, also im geistlichen Sinn dorthin zu gehen, wo wir Luft holen und auftanken können. Könnten uns nicht eine erfrischende Begegnung mit Mitmenschen oder Kontakte von früher, die wir wieder aufleben lassen, Mut machen? Gibt es nicht Worte aus der Heiligen Schrift, die uns gut tun? Ist es nicht schön, sich im Gebet und im gemeinsamen Gottesdienst von anderen getragen zu wissen?
Die Osterkerze für das Jahr 2021, die die Unterdürrbacher Künstlerin Ursula Graf kreativ und aktuell gestaltet hat, soll zum Ausdruck bringen, dass dem Corona-Virus immer noch kraftvoll das grüne Band der Hoffnung entgegenleuchtet. Bill Kaulitz hat schon recht damit, dass die moralischen Lehren und Konsequenzen, die man aus dieser Weltkrise ziehen könnte, nicht überstrapaziert werden (saubere Umwelt, sich auf das Wesentliche besinnen), aber vielleicht findet doch der eine oder die andere Gedanken und Begegnungen, die das bedrohliche violette Virus in leuchtend gelbe Sonnenstrahlen und in einen farbenfrohen Regenbogen umwandelt?
Ein frohes Osterfest und gesunde Zeiten wünscht Ihnen
Ihr immer noch neuer Seelsorger
Pfarrer Wolfgang Senzel